Die großen O-Antiphonen – BENEDIKTINERINNENABTEI ST. HILDEGARD (2024)

Die Tage vom 17.– 23. Dezember sind durch die sieben O-Antiphonen in der Vesper besonders herausgehoben. In ihnen wird Jesus Christus unter Bildworten und Titeln angerufen, die im Alten Testament dem erwarteten Messias zugesprochen werden. Die O-Antiphonen haben alle denselben Aufbau. Sie beginnen mit dem „O“, dem bewundernden Ausruf des Staunens über Gottes Heilstaten, die sich in besonderer Weise in Christus, unserem Erlöser, offenbart haben. Dann schließt sich ein messianischer Hoheitstitel aus dem Alten Testament an, der jeweils auf Jesus Christus hin gedeutet wird. Auf diese Hoheitstitel folgt eine Aussage über das, was der Herr tut oder wie er seine Herrschaft ausübt. In dem eindringlichen Ruf »Veni« – Komm! – drückt sich die Heilssehnsucht des Gottesvolkes bis heute aus. Es sind wunderbare Bilder, zum Teil Erinnerungen an das Wirken Gottes an seinem Volk Israel. Text und Melodie sind zu einer Einheit verschmolzen. Wer sich von dieser innigen Einheit erfassen lässt, wird etwas erfahren von der Sehnsucht, mit der diese Tage zum Weihnachtsfest hindrängen. Es geht um das Hören, Singen und Beten dessen, was Ziel unserer Sehnsucht ist. Alle sieben Hoheitstitel umkreisen das Mysterium Gottes: O Weisheit, O Adonai, O Wurzel Jesse, O Schlüssel Davids, O Morgenstern, O König der Könige, O Emmanuel! Gott kann man keinen gültigen Namen geben, sondern Gott ist der Name über alle Namen (Phil 2,9). Wir können ihn nicht benennen, uns seiner nicht bemächtigen, son-dern ihn nur mit vielen Bildern umschreiben. Gott lässt sich nicht erkennen, sondern nur erahnen. Er ist das „mysterium tremendum“, das „mysterium fascinosum“ unseres Lebens. Nur manchmal dürfen wir etwas von ihm erahnen. Gott ist nicht Statik, sondern unerhörte Dynamik. Er kommt in vielen Erscheinungsformen auf uns zu. Er ist immer der ganz andere. Wir können uns nur stammelnd und bewundernd diesem Mysterium nähern. Nur in dieser Haltung beginnen wir zu ahnen, was es heißen mag: Gott wird Mensch – et incarnatus est. Dieser Gott will mich, dieser Gott liebt mich – welch unbegreifliche Wahrheit.

17. Dezember: O Sapientia , o Weisheit, hervorgegangen aus dem Mund des Höchsten – die Welt umspannst du von einem Ende zum andern, in Kraft und Milde ordnest du alles: Komm und offenbare uns den Weg der Weisheit und Einsicht.
Die Weisheit wird im Neuen Testament auf Christus übertragen. „Gott hat Christus für uns zur Weisheit gemacht, damit wir in ihm ihre Schätze finden“ (Kol 2,3). Von diesem Christus wird gesagt, er herrsche in Kraft und Milde. Ist das für uns nicht vielfach ein Gegensatz? Da ist einer, der sich durchsetzen kann, und da ist der andere in Milde. Bei Christus fällt beides zusammen. Er herrscht mit zarter Kraft und starker Milde. So ordnet er alles. Alles bekommt bei ihm Maß und Mitte. Maß heißt nicht Mittelmaß, sondern in der Mitte des Wesens ruhen. – „Komm!“, in diese Bitte mündet die Antiphon ein. Komm und offenbare Dich! Eine ganz große Bitte. Wo Gott sich offenbart, erkennen wir, wird uns Einsicht, Wissen des Herzens geschenkt.

18.12.: O Adonai, Herr und Führer des Hauses Israel – im flammenden Dornbusch bist du Mose erschienen und hast ihm auf dem Berg das Gesetz gegeben: komm und befreie uns mit deinem starken Arm.
Adonai – der Gottesname war dem Volk Israel heilig: Gott war der Unaussprechliche. Gott, der ganz andere, zu dem vom Menschen her kein Zugang möglich ist, er hat sich uns offenbart als Herr des gesamten Kosmos, als Herr der Geschichte. Er führt uns durch alle Höhen und Tiefen, durch alle Schmerzen und Verlassenheit. Advent, Weihnachten, das bedeutet, dieser Gott, der die Herrschaft über Zeit und Geschichte hat, wird Mensch. O Adonai, Herr, mein Herr! Wo Gott erscheint, da brennt der Dornbusch, da ist Feuer und Brand. „Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen; und was will ich anders, als dass es brenne.“ Wo Gott kommt, da kann sich ein Leben mit einem Schlag verändern, da setzt er neue Maßstäbe. Er bietet uns seinen Bund an, sagt Ja zu uns. Und so dürfen wir auch Ja sagen zu ihm. Er ist uns treu, und nie ist es für uns zu spät, in die Bundestreue zurückzukehren. Wenn wir es nicht können, so ist es doch er, der uns mit starkem Arm in die Freiheit der ersten Liebe zurückführt.

19.12.: O Radix Jesse, o Spross aus der Wurzel Jesse, gesetzt zum Zeichen für die Völker – vor dir verstummen die Herrscher der Erde, dich flehen an die Völker: komm und errette uns, erhebe dich, säume nicht Länger.
Christus, der Wurzelstock – die Wurzel ist Symbol des Urgrunds, aus dem alles Sein und Wachsen hervorkommt. Das heißt glauben: verwurzelt sein in Ihm; hier findet der Mensch seine Identität. In Christus, dem Wurzelstock aus dem Urgrund Gottes. Wurzeln schlagen, das ist ein Lebensprogramm. Christus ist uns gesetzt zum Zeichen, er ist das Signal, das uns aufrütteln will aus unserer Schläfrigkeit. Advent fordert Entscheidung, ob wir uns dem Signal stellen wollen. Nicht aus eigener Kraft können wir uns entscheiden; wir müssen Gott bitten, dass er es in uns wirkt. Wir dürfen ihn geradezu „unverschämt“ bedrängen, in viermaligem Ruf: „Komm, errette uns, erhebe dich, säume nicht länger.“ Die Sehnsucht nach ihm kennt keine Grenze. Gott will gebeten werden, Gott will mit unbändigem Glauben, mit einer unbändigen Hoffnung bedrängt werden. Mit solch unbändigem Vertrauen geben wir ihm die Ehre.

20.12.: O Clavis David, o Schlüssel Davids, Zepter des Hauses Israel – du öffnest, und niemand kann schließen, du schließt, und keine Macht vermag zu öffnen: komm und öffne den Kerker der Finsternis und die Fesseln des Todes! (Antiphon anhören)
Schlüssel, ein Zeichen der Verfügungsgewalt. Wer den Schlüssel besitzt, kann Eintritt gewähren oder verwehren. Wer den Schlüssel besitzt, der trägt die Verantwortung. Wem das Zepter verliehen wurde, dem ist alle Macht gegeben. „Komm und öffne den Kerker der Finsternis und die Fesseln des Todes.“ – Dies ist die erschütterndste Adventsbitte. Es geht um die Existenzfrage unseres Lebens. Jeder kann sich in dieser Bitte wiederfinden. Auch wir sind im Kerker der Finsternis, in der Nacht unserer Seele. Für jeden Menschen gibt es Zeiten, in denen er durch das Dunkel wie durch einen Tunnel gehen muss. Wir kennen die Fragen, die kein Mensch uns beantworten kann, die Zweifel, die an unserem Herzen nagen, die innere Zerrissenheit, die Einsamkeit und die quälende Suche nach dem Willen Gottes für uns. Aus solcher Not erwächst der Schrei: Öffne, mein Gott, den Kerker meines Herzens und reiß mich aus der Finsternis! Du, Herr, kannst es, du kannst meine Verschlossenheit aufbrechen, meine Stummheit lösen, du kannst mir die Angst nehmen und meine Finsternis erhellen.

21.12: O Oriens, o Morgenstern, Glanz des unversehrten Lichtes, der Gerechtigkeit strahlende Sonne: Komm und erleuchte, die da sitzen in Finsternis und im Schatten des Todes. (Antiphon anhören)
„Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf“ (Jes 9,1). Drei Bilder umschreiben das aufstrahlende Licht. Morgenstern, Glanz des unversehrten Lichtes, Sonne der Gerechtigkeit. Der Morgenstern ist Symbol der Hoffnung: klar und funkelnd geht er auf, durchbricht das Dunkel der Nacht und kündet die aufgehende Sonne an, Weihnachten, den Morgen Christi. Von ihm geht Glanz aus, strahlendes Licht, Helligkeit, ganz rein, ohne jede Versehrtheit. Der Morgenstern wächst an zur strahlenden Sonne, immer heller leuchtet der Tag: Leben, Licht, Wärme, Freude, das ist Christus für die Welt des Glaubens. Er ist das Licht, das neue Verhältnisse schafft. Er allein kann uns retten aus den Schatten des Todes, aus Erfahrungen der Grenze, des Scheiterns, des Älterwerdens, der Todesahnung, der Sorgen und Nöte. In diesen Erfahrungen der Dunkelheit fordert uns die Adventsbotschaft he-raus: „Mache dich auf, werde licht, denn dein Licht kommt!“ (Jes 60,1)

22.12.: O Rex Gentium, o König aller Völker, ihre Erwartung und Sehnsucht; Schlussstein, der die Gegensätze eint: Komm und errette den Menschen, den du aus Erde gebildet hast! (Antiphon anhören)
Wir tun uns heute schwer mit der Vorstellung des Königtums Christi. Zu schnell verbinden wir sie in einem Jahrhundert der Diktatoren mit Gewaltherrschaft, Macht und Ohnmacht. Für Israel verknüpft sich mit dem Bild des Königs anderes: Der König ist der Diener des Bundesgottes, der mit der Wahrung der Gottesordnung Beauftragte. Nicht Feldherrentalent oder staatsmännische Begabung, auch nicht innerpolitische Machtbefugnisse schaffen den König, sondern sein persönlicher Ausweis als der mit göttlicher Kraft Erfüllte. Christus ist der König, das heißt: er ist der von Gott eingesetzte Lenker der Völker, der Friedensfürst. Auf ihn setzen die Menschen ihre Hoffnung, auf ihn richtet sich ihre Sehnsucht durch die Jahrtausende. Er ist der Schlussstein, der den ganzen Bau zusammenhält. Aber er ist auch der Stein des Anstoßes. Die Begegnung mit Christus stellt in die Entscheidung. Es geht um nichts Geringeres als um Gewinn oder Verlust des Lebens. Darum schließt sich die flehentliche Bitte an: Komm, rette deine Geschöpfe, errette, was du selbst gemacht hast. Das heißt doch auch: Gott weiß sich für uns verantwortlich. Wir dürfen uns darauf berufen, seine Geschöpfe zu sein – in aller Hinfälligkeit. Er kann uns wieder heil machen. Heil sein bedeutet: Gott ganz zugewandt sein und zur gleichen Zeit in sich ruhend. Ganz Auge und Ohr auf Gott hin sein und zu-gleich in sich gesammelt. Unsere Identität besteht im Anschauen Gottes, dazu sind wir geschaffen, darin finden wir Erfüllung. Das ist Advent. Maranatha – komm! Amen, ja komm, Herr Jesus!

23.12.: O Emmanuel, Gott mit uns, unser König und Lehrer, du Hoffnung und Heiland der Völker: Komm, eile und schaffe uns Hilfe, du unser Herr und unser Gott! (Antiphon anhören)
Die letzte O-Antiphon fasst noch einmal zusammen, was in den vergangenen Tagen besungen wurde. Alles hat sich gesteigert und drängt hin auf den morgigen Tag: Heute sollt ihr wissen, dass der Herr kommt, und morgen sollt ihr seine Herrlichkeit schauen. O Emmanuel – Du, der du mit uns bist, der du mit uns warst, der du kommst. Das ist ein Glaubensbekenntnis, nicht eine neutrale Aussage über Gott. Emmanuel, das ist ein Name ganz großen Vertrauens. Dieser Gott ist unsere einzige Hoffnung in allen Hoffnungs-losigkeiten unserer Tage. Er ist der Heiland, der uns Heilung bringt. Ihn dürfen wir an-rufen: Komm, schaffe uns Hilfe! Schaffe uns neu, schaffe die Welt neu. Schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde, in der kein Leid mehr sein wird, kein Schmerz und keine Tränen.

Von Sr. Christiane Rath OSB†

Die großen O-Antiphonen – BENEDIKTINERINNENABTEI ST. HILDEGARD (2024)

FAQs

What is a famous quote Hildegard von Bingen? ›

We cannot live in a world interpreted for us by others. An interpreted world is not a hope. Part of the terror is to take back our listening, to use our own voice, to see our own light.

What is Hildegard von Bingen remembered for Question 6 of 10? ›

Expert-Verified Answer

Hildegard von Bingen is remembered for her mystical compositions. The correct option is D. Her mysterious compositions are what Hildegard von Bingen is most famous for. She was a German composer, writer, philosopher, mystic, and abbess who lived in the 12th century.

How many visions did St Hildegard have? ›

Her friend, the monk and scribe Volmar, would then translate her writings into proper Latin. In 1147, Pope Eugenius III, presented with the first parts of Scivias, declared Hildegard's prophetic writings authentic and important works. These 26 visions are at turns beautiful, brutal and confounding.

How did Hildegard become a nun? ›

At the age of 14, Hildegard was sent to live with a nun named Jutta who eventually becomes the head of the Disibodenberg monastery. During her time with Jutta, Hildegard became a nun herself and learned how to read by means of Jutta's teaching and mentorship.

What is Saint Hildegard the patron saint of? ›

St. Hildegard is one of the few prominent women in medieval church history. In fact, she is one of only four women who were named a doctor of the church, meaning that her doctrinal writings have special authority in Roman Catholicism. She is considered by many to be a patron saint of musicians and writers.

What is the meaning of Hildegard of Bingen? ›

Hildegard of Bingen (German: Hildegard von Bingen, pronounced [ˈhɪldəɡaʁt fɔn ˈbɪŋən]; Latin: Hildegardis Bingensis; c. 1098 – 17 September 1179), also known as Saint Hildegard and the Sibyl of the Rhine, was a German Benedictine abbess and polymath active as a writer, composer, philosopher, mystic, visionary, and as a ...

Why was Hildegard von Bingen excommunicated? ›

Hildegard challenged the Cathars, who rejected the Catholic Church claiming to follow a more pure Christianity. Between 1152 and 1162, Hildegard often preached in the Rhineland. Her monastery was placed under interdict because she had permitted the burial of a young man who had been excommunicated.

What did Hildegard von Bingen struggle with? ›

She was often ill as a child, afflicted with headaches which accompanied her visions, from around the age of three. Whether her parents consulted physicians about her health issues is unknown, but at the age of seven, they sent her to be enrolled as a novice in the convent of Disibodenberg.

What type of music is Hildegard von Bingen known for? ›

Her music is described as monophonic, that is, consisting of exactly one melodic line. Its style is characterized by soaring melodies that can push the boundaries of the more staid ranges of traditional Gregorian chant.

What happened when Hildegard was 8 years old? ›

Her ageing parents placed her under the tutelage of Jutta von Sponheim – “as a gift to God.” This idea of the 'tithe' of a child to the Church was not uncommon. And so at the age of eight years old Hildegard came to live on the outskirts of a Benedictine monastery of monks, under the tutelage of the older hermit Jutta.

What is the prayer of St Hildegard? ›

O God, by whose grace your servant Hildegard, kindled with the Fire of your love, became a burning and shining light in your Church: Grant that we also may be aflame with the spirit of love and discipline, and walk before you as children of light; through Jesus Christ our Lord, who lives and reigns with you, in the ...

Was Hildegard an anchorite? ›

In their choir stalls the monks shivered with emotion: it was the voice of the child anchorite, the noble Hildegard.

Did Hildegard get married? ›

Hildegard of Bingen was not married to anyone. As a woman dedicated to the church, she took her vows to become a nun. Remaining unmarried is one of the conditions of these vows.

Where is Hildegard buried? ›

Hildegard of Bingen is currently buried at the parish church of Eibergen in Germany. However, this is not her original burial place. Originally, she was buried at the convent of Disibodenberg in Germany after her death on September 17, 1179. In 1642, her remains were moved to her current resting place.

Why did nuns leave after Vatican 2? ›

"And I'm kind of a story, or an embodiment, of what happened to nuns out of Vatican II, because it brought me eventually to poor people in New Orleans and to death row.” Given broadened autonomy in convent life, nuns found themselves posed as radicals, living a communitarian life aside from the confines of a modern ...

What was Hildegard von Bingen best known for? ›

Along with her impressive body of work and ethereal musical compositions, Hildegard is best known for her spiritual concept of Viriditas – “greenness” - the cosmic life force infusing the natural world. For Hildegard, the Divine manifested itself and was apparent in nature.

What was unusual about Hildegard of Bingen? ›

Hildegard was also someone who didn't accept her place in the world. She wrote her books, and created a new language, and, in a male-dominated church, she went on preaching tours at a time when women were not supposed to preach, especially in public. She refused to behave in a certain way.

Who is the saint of creativity? ›

Saint Hildegard of Bingen is often considered to be the patron saint of creativity. Hildegard was a 12th-century German abbess, artist, composer, healer, and visionary who is known for her contributions to theology, medicine, art, history, and music.

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Author: Cheryll Lueilwitz

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Name: Cheryll Lueilwitz

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